Dem Dummling auf der Spur

Die weiße Taube - Dem Dummling auf der Spur

Vielleicht ist genau dieses Märchen mein Lebensmärchen. Obwohl - hätte man mich gefragt - ich vermutlich eine andere Wahl getroffen hätte. Aber nun lässt mich dieses Märchen nicht mehr los. Seit ich diese kleine Geschichte an den Beginn meiner Idee zum "Jahr des Märchens 2023" gestellt habe, begleitet sie mich in Gedanken und in den Alltag hinein. Ich bin fasziniert von der Idee, die sie vermittelt: Einfach mal stehenbleiben, sich umsehen und das würdigen, was da ist. Guter Tipp, dachte ich, ich schaue mich erstmal um, bis ich wirklich weiß, wohin die Reise geht. So weit, so gut. 

 

Gleichzeitig ist kaum zu übersehen, wie weit wir uns von dieser alten Weisheit entfernt haben. Wer lässt sich heute noch Zeit für die Einschätzung einer Situation? Wir hören oder sehen etwas, reagieren emotional darauf und fragen uns: "Was tun?" Nehmen wir uns eigentlich noch Zeit, um nachzufragen: "Worum geht es eigentlich?" Wir sind uns oft so sicher in unseren ersten Eindrücken, dass wir spontan und mitunter unüberlegt handeln, etwas fordern, kritisieren oder abwehren. Doch das 'Eigentliche' liegt oft unter dem 'Offensichtlichen'.

 

Mir fallen kleine Situationen ein, sei es aus meiner Arbeit oder meinen Kontakten mit Kindern, in denen ich mir Zeit gelassen habe, herauszufinden, worum es eigentlich ging. Ich erinnere mich an eine Szene, in der ich im Büro des Kindergartens sitze und durch die geöffnete Tür und den Flur in den Waschraum sehen kann. Dort ist an vier WC-Kabinen-Türen jeweils ein Enten-Bild aufgeklebt, eine große Ente und drei kleine. Ich sehe, wie ein kleines, vielleicht dreijähriges Mädchen beginnt, eine der kleinen Enten mit dem Finger von der Tür zu lösen. Ich stehe auf und gehe zu ihr. "Was machst du denn da?" Die Kleine lässt sich gar nicht stören und sagt: "Die (kleine Ente) soll zu ihrer Mama."

 

Ich erinnere mich nicht mehr, wie es weiter ging, aber ich weiß noch, wie froh ich war, die Kleine nicht vorschnell gestoppt und zurechtgewiesen zu haben. Ihre gute Absichten waren in diesem Moment bedeutender als irgendein ein Enten-Aufkleber.

 

Eine andere kleine Szene: "Mir ist so langweilig", klagt ein kleines Mädchen, das am Kindergarten-Zaun lehnt. Am Seeufer gegenüber gerade Baggerarbeiten statt, die andere Kinder neugierig verfolgen. Ich bleibe stehen. "Was möchtest du denn am liebsten machen", frage ich. "Ich bin vier Jahre alt und möchte einen Wackelzahn."  Wie falsch  hätte ich gelegen, hätte ich ihr empfohlen: "Spiel doch das oder das." Sie hat wunderbar ausgedrückt, worum es ihr geht. Sie wünscht sich einen Wackelzahn, wünscht sich, dazuzugehören, auch Schulkind zu sein. Doch sie muss warten. "Bis zum fünften Geburtstag", fügt sie hinzu. Das kann ganz schon lang werden, langweilig eben. 

 

Wie mag es den Brüdern in der weißen Taube gegangen sein? Sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen. Das hat sie in Aufregung versetzt, vielleicht waren sie gespannt und geradezu elektrisiert von der Idee, den Dieb zu entdecken. Doch je länger es dauerte, umso langweiliger wurde es, und weil sie sich schon ziemlich verausgabt hatten, hat der Schlaf sie regelrecht überfallen. 

 

Der Dummling - ich muss lächeln, weil ich mir gerade vorstelle, dass auch er auf seinen ersten Wackelzahn warten musste - hatte Erfahrungen mit Warten und Langeweile. Er lief immer so mit, er wurde nicht für voll genommen. Vieles von dem, was seine Brüder machten, durfte oder konnte er noch nicht. Aber nun kommt ihm genau diese Erfahrung zu gute. Er bleibt wach. Er entdeckt die Taube. Er lässt sich Zeit zum Beobachten. Immer wieder taucht sie auf und fliegt davon, taucht auf, fliegt davon... und dann ist sie fort, verschwunden in einer Felsspalte.

 

Auch wenn er es noch nicht weiß: In diesem Moment entscheidet sich sein Glück, weil er zwei kluge Dinge tut. Er sieht sich um, und er würdigt das, was er entdeckt, mit: "Gott segne dich." Es ist so etwas wie eine Zustimmung zu allem, was war und ist, und dem Hinweis auf sein Glück folgt er, ohne sich zu wehren oder zu beklagen. 

 

Warum ist es zu meinem Märchen, meinem Lebensmärchen, meinem Lebenssituations-märchen geworden? Ich habe mich zur Aktion "Jahr des Märchens 2023" aufgemacht, mich einer Aufgabe gestellt, mich in einen Prozess hineinbegeben, ohne zu wissen, was auf mich zukommt.

 

"Du brauchst Unterstützung." - "Du brauchst Geld." - "Du brauchst Vorlauf." Die Zweifel Warnungen waren nicht zu überhören. Aber all das lag gerade nicht in greifbarer Nähe. Die Idee ließ mich dennoch nicht los. Ein größeres Projekt zu organisieren, konnte ich nicht leisten. Das wollte ich auch nicht. Und doch fühlte ich mich getrieben von der Idee, mich ein Jahr lang für "Märchen" und für "Freies Erzählen" einzusetzen.

 

Es ist mein Thema, war mein Beruf über viele Jahre hinweg. Nun, nach drei Jahren Corona-Pause, fiel mir der Anfang schwer. In der Umgebung, in der ich lebe, mangelt es an Märchen und freiem Erzählen. Kleinschwellige Angebote für Kinder, Familien, aber auch für Erwachsene sind rar. Eine Erzählerin gilt schnell als naive Spinnerin, als eine, die nicht alle Tassen im Schrank hat, weil sie sich mit längst überholten, banalen, grausamen und unwirklichen Geschichten abgibt. 

 

Mit dem Blick auf die beiden älteren Brüder dachte ich: Mir wird es gehen wie ihnen. Wenn ich mich mit viel Vorlauf und umfangreiche Organisation hineinstürze, kann ich mich schnell übernehmen, und mir wird an entscheidenden Stellen die Kraft fehlen wird.

 

Ich möchte die Taube entdecken. All die vielen kleinen Gedanken. Die Ideen und Inspirationen. Ich möchte mir selbst, aber auch den Märchen und dem, was sie vermitteln und bedeuten, noch einmal ganz neu auf die Spur kommen. Ich möchte die kleinen grauen Männchen auf meinem Weg entdecken und sie würdigen. Ich habe mir vorgenommen: Ich mache es dieses Mal ganz anders. Ich nehme mir ein Beispiel an dem Dummling und mache mich vertrauensvoll auf den Weg.

 

Ich kann schon mal verraten: Es entsteht vieles, ich komme mit vielen Menschen ins Gespräch. Ich erfahre viel. Ich höre mich um und sehe mich um. Es ist kein Zufall, dass ich überall dort die größten Schwierigkeiten entdecke, wo wir das nicht tun, nicht stehen bleiben, nicht zuhören - sei es vor Ort in meinem kleinen Städtchen, sei es in den Medien oder in der großen Welt-Politik. 

 

Ich bin voller Freude, dass mir dieses kleine Märchen so viel geschenkt hat. Dabei erinnere ich mich, dass wir vor längerer Zeit in einem Märchenerzählerinnen-Kreis davon gesprochen haben, die alten Märchen von Staub und Spinnweben zu befreien, damit sie wieder gesellschaftsfähig werden. Sie ins "Heute" zu holen, wie Kristin Wardetzky es in einem Interview formulierte.

 

Ich sehe die Taube vor mir, tief im Berg, die - eingesponnen in ein Netz von Spinnweben - auf ihre Erlösung harrt. In dem Moment, in dem sie sich gesehen fühlt, bricht sie hindurch. Sie verwandelt sich, als der letzte Faden von ihr abfällt, in eine  wunderschöne Prinzessin.

 

Dieses Bild stelle ich an den Schluss meiner Betrachtungen zum Märchen mit einer Einladung: Schaut euch um, hört zu und würdigt das graue Männchen. So können wir die Märchen erlösen, ebenso wie der Dummling die schöne Prinzessin erlöst hat.

 

In diesem Sinne viel Glück!

 

Die weiße Taube

 

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